Drogennotfallprophylaxe bei Opioidkonsumenten

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Problem: Drogennotfall durch Überdosis



Es gibt 6.000 – 8.000 drogenbedingte Todesfälle in Europa jährlich. Weltweit werden jährlich 69 000 Todesfälle durch Opioid-Überdosis geschätzt. Studien zeigen, dass ein Drittel bis zur Hälfte aller Todesfälle von DrogengebraucherInnen eine Folge von Überdosierungen sind. Die Mortalität in Europa unter OpioidkonsumentInnen ist um fünf bis zehn Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung derselben Alters- und Geschlechtsgruppe. Quelle: Bargagli et al., 2006; Degenhardt et al., 2011; EMCDDA, 2011, 2013a; EMCDDA (2015), Preventing fatal overdoses,S. 2; 2 EMCDDA (2017): Europäischer Drogenbericht, S. 68

  • 2/3 aller Opiatkonsumierenden haben selbst schon eine Überdosierung erlebt.
  • Noch mehr waren ZeugInnen der Überdosierung einer anderen Person.
  • ExpertInnen schätzen, dass 2/3 aller Todesfälle durch Opiatüberdosierungen durch eine flächendeckende Verfügbarkeit von Naloxon vermieden werden könnten.

 

Viele tödliche Opiatüberdosierungen könnten vermieden werden, wenn Naloxon in Deutschland flächendeckend allen Opiatkonsumierenden sowie ihren Angehörigen, Freundinnen und Freunden und Bekannten zur Verfügung stehen würde. In vielen Fällen von Opiatüberdosierungen sind Dritte anwesend, die schnell Erste Hilfe leisten und Leben mit Naloxon retten könnten. Die Verschreibung von Naloxon an OpiatkonsumentInnen ist in Deutschland möglich. Neben den Ampullen gibt es seit dem 01.09.2018 auch Nyxoid® als erstes Naloxon-Nasenspray in der Wirkstärke 1,8mg in Deutschland.
Es hat sich seit dem Fachtag Drogennotfallprophylaxeund Naloxon im Juni 2017 in München ein Netzwerk gebildet, das bundesweit Schulungen zum Einsatz von Naloxon bei Drogennotfall anbietet. Mehr dazu unter dem Menuepunkt AKTUELLES + TERMINE.

Statements

„In allen Konsumräumen ist das Überleben der Opiatabhängigen durch eine sofort einsatzbereite Notfallversorgung gesichert; es gab im Zeitraum von 1995–2001 insgesamt 2,1 Mio. Konsumvorgänge; für den gleichen Zeitraum sind insgesamt 5.426 Notfälle dokumentiert, die ohne ein sofortiges Einschreiten durch das Personal hätten tödlich enden können.“ (Evaluation der Arbeit der Drogenkonsumräume in der Bundesrepublik Deutschland; Band 149 der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung; Baden-Baden 2003)

„Nach meiner Einschätzung handelt es sich bei der Verabreichung von Naloxon durch geschulte Laien in Drogennotfällen um eine weitere, zusätzliche Handlungsoption, die das Leben Drogenabhängiger retten kann. Daher sollte diese Therapieoption –zusätzlich zu dem in Deutschland etablierten Notarztsystem – im Rahmen der Überlebenshilfe für opioidabhängige Patientinnen und Patienten stärkere Berücksichtigung finden. Ich hoffe, dass künftig eine bedarfsgerechte Naloxon-Anwendung durch geschulte Personen, z.B. Sozialarbeiter, vor Ort möglich ist.“ (Marlene Mortler, Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Antwort zur Anfrage der DGS zu Naloxonverordnung und Brief an DGS und BÄK v. 3.7.2017; siehe auch Bayrische Landesärztekammer in einem Brief an Frau Gorgas, SG Koordinatorin für Psychiatrie und Suchthilfe v. 22.6.2015)

“People likely to witness an opioid overdose should have access to naloxone and be instructed in its administration to enable them to use it for the emergency management of suspected opioid overdose.” (World Health Organization (WHO) (2014): Community management of opioid overdose.)

“Take-home naloxone provision is an emergency life-saving intervention” (European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA) (2015): Mortality among drug users in Europe: new and old challenges for public health.)

„It is highly effective and safe and has no significant side effects and no potential for misuse.” (UNODC (2014): World Drug Report 2014)

Gegenmittel: Naloxon


Wirkung & Anwendung


  • Naloxon ist ein Opioid – Antagonist und wirkt an allen Opioidrezeptoren.
  • Naloxon hebt die Wirkungen, die durch Opioide verursacht werden auf.
  • Naloxon wird in der Notfallmedizin als Antidot bei Opiatüberdosierung durch entsprechende Drogen bzw. Medikamente, wie Heroin, Methadon, Fentanyl, verwendet. Im Zusammenhang mit Atemdepression bzw. Atemstillstand angewandt, wirkt Naloxon innerhalb von Sekunden.

Es kann bei einer Überdosierung intravenös, intramuskulär, subkutan oder inzwischen bevorzugt intranasal verabreicht werden. Schwere Nebenwirkungen sind sehr selten (Übelkeit und Kopfschmerz sowie Entzugserscheinungen mit anschließendem starken Bedürfnis, erneut Drogen zu konsumieren, können bei nicht-titrierter Gabe auftreten). Eine Überdosierung mit Naloxon ist nicht möglich. Bei nicht-opiatkonsumierenden Menschen hat seine Verabreichung keinerlei Wirkung. Naloxon kann Opiatkonsumierenden von einer Ärztin/ einem Arzt auf Privatrezept verordnet werden. Die Verabreichung von Dritten im Notfall ist durch § 34 StGB („Rechtfertigender Notstand“) gedeckt.

Naloxon ist ein Opiatantagonist, der schon seit über 40 Jahren in der Notfallmedizin zur Behandlung von Opiatüberdosierungen eingesetzt wird, um opiatbedingte Atemdepressionen zu beseitigen. Seine Verabreichung ist der schnellste bekannte Weg, um lebensbedrohliche Auswirkungen einer Überdosierung wie z.B. eine Atemlähmung, Hypoxie, Bewusstlosigkeit und Blutdruckabfall etc. innerhalb von wenigen Minuten aufzuheben. Seine Gabe im Notfall hilft zudem nicht nur Leben zu retten, sondern kann auch Folgeschäden eines Sauerstoffmangels vermeiden. Eine Überdosierung ist nicht möglich und Nebenwirkungen wie Herzrhythmusstörungen und Lungenödem sind sehr selten. Es können jedoch durch seine Gabe Entzugserscheinungen ausgelöst werden.

Wirkt Naloxon bei allen Opioiden?

Quelle: Prof. Dr. Norbert Wodarz, medbo

Naloxon ist in Deutschland nun als Nasenspray verfügbar, daher kann die eigentliche Darreichungsform als intravenöse, intramuskuläre oder subkutane Injektion im Drogennotfall in den Hintergrund treten. Die intranasale Vergabe wird mittlerweile in vielen Take-Home Naloxon-Programmen empfohlen. Entsprechende Nasalapplikatoren werden vergeben um das Infektionsrisiko, das mit einer Injektion zusammenhängt, zu minimieren. Die Wirksamkeit tritt bei der nasalen Vergabe etwas später ein, dennoch kommen verschiedene Studien zu dem Ergebnis, dass die Effektivität der intranasalen Verabreichung mit der der intramuskulären und intravenösen vergleichbar ist. Allerdings ist das in Deutschland verfügbare Naloxon nicht optimal konzentriert für die nasale Applikation, so dass die Wirkung nicht so effektiv ist, wie die von Naloxonnasensprays. Die Halbwertzeit von Naloxon liegt zwischen 20 und 90 Minuten, sie ist damit deutlich kürzer als die gebräuchlicher Opiate. So kann eine vorübergehende Bewusstseinsaufklarung nach erfolgter Naloxongabe täuschen und ein erneuter Atem- bzw. Kreislaufstillstand drohen. Dieser Zustand kann durch eine weitere Naloxon-Gabe erneut behoben werden. Die betroffene Person sollte nach der Gabe von Naloxon im Notfall für einige Zeit unter Beobachtung bleiben, da es insbesondere durch möglicherweise auftretende Entzugserscheinungen zu einem hohen Bedürfnis kommen kann, erneut Opiate/Opioide zu konsumieren. Dies sollte wegen der Gefahr der erneuten Überdosierung von Anwesenden unbedingt verhindert werden.


Lösung: Take-Home Naloxon Programme (THN)


Was sind Take-Home Naloxon-Programme?


  • In THN wird Opiatkonsumierenden, nach einer Drogennotfallschulung, Naloxon verschrieben, damit es ihnen von Dritten in einem Überdosierungsfall verabreicht werden.
  • Es ist sinnvoll auch Nicht-Opiatkonsumierende Menschen z.B. Angehörige, FreundInnen und Sozialarbeitende für den Drogennotfall und die Naloxonvergabe zu schulen, da diese oft bei einer Überdosierung anwesend sind.
  • WHO und EMCDDA empfehlen die Ausweitung von Take- Home Naloxon-Programmen zur Prophylaxe tödlicher Drogennotfälle.

Take-Home Naloxon-Programme wurden erstmals Mitte der 1990er Jahre in den USA implementiert, um den hohen Todeszahlen durch Opiatüberdosierungen zu begegnen. Mittlerweile gibt es in über 20 Ländern weltweit Programme, in denen Opiatkonsumierende und teilweise ihre Angehörige, FreundInnen, Bekannte, Sozialarbeitende und auch PolizistInnen für den Drogennotfall und die Naloxonvergabe geschult werden.

Mit dem Modellprojekt NALtrain Konzeption, Umsetzung und Evaluation eines Wissenschaftlichen Modellprojekts zur Durchführung deutschlandweiter qualitätsgesicherter Take-Home Naloxon Schulungenim Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums werden seit dem 01. Juli 2021 erstmals in Deutschland flächendeckend Trainings zur Naloxnvegabe im Drogennotfall angeboten. Informationen zum Ablauf des Projektes finden Sie hier unter Aktuelles und vor allem auf der Projektseite https://www.naloxontraining.de/ NAltrain.

In Europa existieren THN-Programme stadtfinaziert in Dänemark, Deutschland, Estland, Irland, Italien, UK (England) und Norwegen und auf regionaler Basis in Katalonien und Schottland und Wales. Eine Reihe anderer EU-Staaten prüfen die Vergabe von THN-Programmen. (Quelle: EMCDDA (18.1.2016): http://www.emcdda.europa.eu/news/2016/1/preventing-opioid-overdose-naloxone)

Nach den Trainings wird den Teilnehmenden je nach rechtlichen Regelungen in den einzelnen Ländern (in Deutschland nur an opiatkonsumierende Menschen selbst) Naloxon verschrieben. Diese können das Naloxon dann im Notfall einer opiatüberdosierten Person verabreichen.


Mythen und Fakten zur Naloxonvergabe an Laien


Die Fakten auf einen Blick:


  • Medizinische Laien sind in der Lage Naloxon im Notfall adäquat und sicher anzuwenden.
  • Die Verfügbarkeit von Naloxon führt nicht zu einem riskanteren Konsumverhalten.
  • Naloxonvergabe führt nicht zwangsläufig zu einem Rückgang der Notarztrufe im Notfall.
  • Eine flächendeckende Naloxonvergabe kann zu geringeren Sterberaten beitragen.
  • Über die reine Naloxonvergabe hinaus hat die Abgabe medizinischer Kompetenz empowernde Effekte für die Konsumierenden.
  • Die nasale Vergabe reduziert Infektionsrisiken und ist von der Wirkung mit der intravenösen und intramuskulären Applikation vergleichbar.
  • Bei Take-Home-Naloxon handelt sich nachgewiesener Maßen um eine kosteneffektive Strategie.

In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass medizinische Laien, die an einer Drogennotfallschulung teilgenommen haben, Naloxon im Notfall adäquat und sicher einsetzen können! Es ist ein sicheres Medikament, da es bei Menschen, die keine Opiate konsumiert haben, nicht wirkt und auch kein Missbrauchspotential aufweist. Erste Studien belegen, dass eine flächendeckende Abgabe von Naloxon an Opiatkonsumierende die Sterberate infolge von Überdosierungen sinken lässt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) empfehlen daher die Abgabe von Naloxon an medizinische Laien ausdrücklich.

Die Evaluationen von vielen Naloxon-Programmen kommen zu dem Schluss, dass die Naloxonvergabe entgegen der Meinung ihrer KritikerInnen nicht zu einem erhöhten Risikokonsum führt. Einige ExpertInnen sind weiter der Meinung, dass die Beschäftigung mit den Risiken einer Überdosierung im Rahmen der Trainings sowie die Angst vor einem plötzlichen Entzug nach Naloxonverabreichung eher zu einem vorsichtigeren und damit sichereren Konsum führt.

Nur in einer von vielen Forschungen wurde eine Abnahme des Notrufverhaltens durch die Naloxonvergabe bei der Zielgruppe beobachtet. Bei den weiteren Untersuchungen konnte keine Veränderung des Notrufverhaltens festgestellt werden. Es ist also nicht davon auszugehen, dass Konsumierende sich auf Naloxon als „Sicherheitsnetz“ verlassen und dadurch im Notfall seltener die 112 wählen. Auch die Kosteneffektivität der Programme konnte in drei Studien untersucht und bestätigt werden.